Wir saßen vor einiger Zeit im Restaurant unserer Freunde, um die Speisen für unsere Hochzeit und den Ablauf derselben zu besprechen. Nachdem die Arbeit getan und wir auch noch gut gegessen hatten, leerte sich das Lokal und wir kamen mit den Beiden ins Plaudern. Sie erzählten uns von Ihrer Arbeit und Ihren Söhnen, die für das Funktionieren Ihres Gasthofes wesentlich sind und alle Entbehrungen der Selbstständigkeit von Kleinauf kennengelernt haben. Ein Sohn sagte Ihnen:
„Ihr habt Glück, eure Generation muss ihre Körper bei der Arbeit nicht mehr ruinieren.“ Recht hat er, schließlich arbeiten nur noch wenige im Bergwerk und auch wenn „Sitzen das neue Rauchen“ ist, darf man dieser Diagnose wohl zustimmen. Der Sohn fuhr fort: „Aber ihr habt das Pech, dass „ihr“ häufiger psychisch krank werdet. Ihr verschleißt also einen anderen Teil eures Körpers. Damit müsst ihr leben und das gehört zu „eurer“ Zeit.“
Miri und ich empfanden das als erstaunlich ehrliche, nüchterne und für die Eltern vielleicht auch ein bisschen schockierende Analyse, die aber unmittelbar die Frage aufwarf, wie es weitergeht, denn man darf annehmen, dass die technologische Entwicklung und Dynamik des Arbeitsmarktes nicht enden werden. Was werden wir also auf dem Opfertisch des Fortschritts darbringen?
Vermutlich wird es sich dabei um den Genuss handeln. Bereitwillig verknappen wir unsere (verrückterweise auch noch länger werdende) Lebenszeit, indem wir immer mehr erledigen und immer produktiver und effizienter sein wollen, damit -, ja, warum eigentlich? Äußere Anreizsysteme sind schon lange nicht mehr das Mittel der Wahl, um Erfolgsdruck zu erzeugen seit sich alle „Jobs mit Sinn“ suchen und ihre Arbeit gern machen. Der innere Erfolgsdruck, den Schulen bereits erfolgreich vorbereiten und der von den Bachelor- und Masterstudiengängen ausgebaut wird, macht das Leben Vieler zur To-Do-Liste anstatt zum Raum möglicher aber ungewisser Erfahrungen.
Wir befinden uns in einer Gegenwart des Planens und der individuellen Scheinfreiheit, die an Zeiten des Sozialismus erinnert, wie Prof. Nassehi pointiert im Interview antwortet, als an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gerade der Audimax besetzt war. 1 Alle wollen Abitur, ein wirtschaftliches Studium bzw. IMM („Irgendwas mit Medien“), müssen dann ins Ausland und unbedingt erst ein paar Jahre arbeiten, bevor man an Kinder denken kann. Diese weitreichende Uniformität hätte vermutlich Erich Honecker vor Neid noch weiter erblassen lassen.
Wir machen kaum noch zufällige Begegnungen, weil wir alles vorher per Smartphone abstimmen, jede Verspätung ankündigen – und wenn wir doch einmal offen wären für unerwartete Kontakte starren wir nach unten auf unsere Displays. Wir fragen keinen Fremden nach dem Weg oder dem besten Restaurant, denn das haben wir ja schon über Google und Tripadvisor herausgefunden. So praktisch der kleine Computer in der Tasche sein kann, an dieser Stelle vertreibt er den Flaneur in uns zugunsten des Touristen. Und das ist ein bedauerlicher Verlust potentiell genussvoller Momente.
Wir essen Gerichte, die wir nach Listen und Rezepten kochen – wenn wir überhaupt kochen -, deren Komponenten man sich sogar in passenden Mengen nach Hause liefern lassen kann. Oder andersherum: das Internet schlägt uns passende Rezepte für den Inhalt von Kühlschrank und Speisekammer vor. Den Anweisungen folgen, wiegen, mischen, kneten, schneiden, abhaken. Abschließend auf das Ergebnis stolz sein, weil man ja „selbst“ gekocht hat. Wenn ein Gast beim Essen fragt, warum denn da Sellerie drin sei und man selbst keine Ahnung hat, dass die Brühe, die man gemäß Rezept eingerührt hat, welchen enthält, merkt man vielleicht, dass hier der Bezug zu unserer Nahrung gestört ist – auch wenn wir selber kochen (bei Fertiggerichten sollte das ja unmittelbar einsichtig sein).
Zeit für ein paar Gegenmaßnahmen:
- Gemeinsam kochen und essen mit regionalen und saisonalen Lebensmitteln, z.B. als Teil der Kinderbetreung, des Seniorengartens und des Co-Workings
- Konzerte und andere Darbietungen erleben und selbst gestalten
- Begegnung ermöglichen und wertschätzen, auch die alltägliche und gleichzeitig ungeplante, z.B. beim Einkaufen.
- Wenn man glaubt, die Fähigkeit des Genießens verloren zu haben, kann man sich auch ein Genusstraining im Rahmen der Agora Akademie vorstellen.
Wir wollen aufbauen statt abhaken und Vielfalt statt Einfalt. Ihr auch?